Heute back ich, morgen brau ich und übermorgen hol ich der Königin ihr Kind!
Rumpelstilzchen
Die übliche Deutung des Märchens Rumpelstilzchen ist der Sieg der jungen Müllerin auf der ganzen Linie: sie rettet ihr Leben, wird Königin, bekommt ein Kind und kann das Rumpelstilzchen austricksen, um alles Erworbene zu behalten. Doch diese Auslegung ist nur auf den ersten Blick schlüssig. Denn unter der vermeintlich einfachen Fassade gibt es tiefgründiges zu entdecken.
Es beginnt – und damit wie oft auch in der Entwicklung eines Menschen – mit einer prekären Notlage. Da ist eine Mühle, die an das Mühlrad des Lebens erinnert, das unablässig angetrieben wird und sich endlos im Kreis dreht.
Wozu? Sie mahlt und wandelt das Grobe ins Feine. Der Müller in dieser Mühle behauptet nun von seiner Tochter, sie könne Stroh zu Gold spinnen. Ob er das wortwörtlich gemeint hat oder eher ausdrücken wollte, dass sie goldene Hände hätte, also sehr geschickt wäre, sei dahingestellt. Seine Absicht war auf jeden Fall das Prahlen vor dem König, der Reichtum und Ansehen bedeutet. Sein Motiv ist nicht allzu löblich, und so kann die Wirkung erstmal kaum gute Früchte tragen.
Der König scheint nun die Worte des Müllers wortwörtlich zu nehmen und droht dem Mädchen sogar mit dem Tod, wenn sie nicht das kann, was ihr Vater behauptet hat.
Doch was bedeutet eigentlich, Stroh zu Gold spinnen?
Stroh und Gold sind zwei Extreme, die auf den ersten Blick ähnlich aussehen. Doch das Eine war damals, als die Getreidehalme noch nicht zu Zwergen umgezüchtet waren, einer der Schätze der Bauern. Das Stroh diente als Schlafstätte für Mensch und Vieh, als billiges Baumaterial oder wurde zum Flechten von Matten, Schuhen, Sandalen, Hüten, Körben und schönem Schmuck verwendet. Gut getrocknetes Stroh hat eine goldene Farbe, ist aber innerlich hohl und besitzt wenig nahrhafte Substanz.
Das andere war der Reichtum der Reichen. Aus Gold wurden Geldmünzen und kostbarer Schmuck gemacht. Das Spinnen kann man in zweierlei Hinsicht deuten. Zum einen lässt sich durch fleißige Arbeit alles in Gold verwandeln, und zum anderen kann man durch Hirngespinste sogar buntbedruckte Papierscheine zu wertvollem Geld machen.
Was wirklich wertvoll im Leben ist oder nicht, ist eine Frage der Mode, also der geistigen Bildung oder Einbildung. Hier spricht man oft von Spinnerei. Zumindest geht es am Ende darum, etwas vermeintlich Niederes in das Wertvollste zu verwandeln, was die Menschen kennen.
Diese Verwandlung in Gold war auch in der Alchemie das große Ziel und ging gewöhnlich nicht ohne Zauber ab, der ja oft in Märchen vorkommt. Doch meist bedeutet Magie ein geistiger Prozess, also eine geistige Entwicklung vom Niederen zum Höheren.
Gold steht für sowohl Reichtum und Langlebigkeit, als auch Licht, Weisheit und damit eine reine, also goldene Seele.
Wie gelangt man vom Stroh des Lebens zu einer reinen Seele ohne Habgier und Zorn? Man benötigt die innere Erkenntnis, wie man im Einklang mit der Natur lebt. Achtet und liebt man die Natur nicht, oder meint man sogar, man wäre nur von leblosen Dingen umgeben, die man beliebig zwingen kann, dann schwingt man sich zum tyrannischen Herrscher auf. Ein Tyrann kann morden und quälen, weil er sich getrennt von anderen sieht und kein Mitgefühl mehr hat. Er mag denken: Was geht mich das Elend anderer an?! Doch wer kein Mitgefühl hat, der ist innerlich kalt und tot.
Nun, die Müllerstochter weiß nicht mehr, wie man mit der Kraft der Natur Stroh zu Gold spinnt. Und wenn sie das nicht kann, muss sie sterben, zumindest auf geistige Weise, weil sie die Verbindung zur lebendigen Natur verloren hat. So könnte man die erste Drohung durch den König deuten. Über die Motivation des Königs kann man streiten, ob er nur gierig auf Gold aus ist, oder ob er für die männliche Kraft steht, die das Weibliche herausfordert, sich zu entwickeln.
Wenn alles ausweglos erscheint, wer kommt zu Hilfe, auch wenn er gar nicht gerufen wurde?
Die Natur selbst, hier als unscheinbares Männlein, welches willig das Halsband als Gegenleistung annimmt.
Eine Kette steht symbolisch für ganz unterschiedliche Dinge: für Verbundenheit ebenso wie für Abhängigkeit, für Gefangenschaft und Unterdrückung und gleichfalls für ein ehrbares Amt in allen Würden. Da das Männlein die Kette gern akzeptiert, könnte gemeint sein, dass die Müllerstochter den Helfer ehren und ihre Verbundenheit mit der Natur wieder herstellen will. Auf jeden Fall will sie sich aus der erdrückenden Situation befreien, in der sie um ihr Leben fürchtet.
Ein Ring ist ein magisches Ding.
In vollkommener Harmonie ist er in sich geschlossen und steht für Ewigkeit, Einheit, Festigkeit und Treue. Das Mädchen gibt ihn gern, um sich zu retten, doch hat sie gelernt, was es bedeutet, sich in Liebe und Respekt mit der Natur zu verbinden?
Wir Menschen sagen zwar gern, ich züchte Obst und schmiede Eisen, und meinen damit, naturverbunden zu sein. Doch wer lässt denn im Grunde sämtliche Nahrung wachsen und die Elemente sich fügen? Es ist die Natur, die wirkt, und wir Menschen können uns nur einfügen in die Prozesse und nutzen, was sie zu geben bereit ist. Sicher haben wir im Laufe der Generationen gelernt, einige Naturprozesse zu optimieren oder zu verändern. Und dann denken wir, wir haben alles im Griff und verstanden. Doch selten kennen wir die Langzeitfolgen und kämpfen oft genug mit unangenehmen Nebenwirkungen, die wir vorher nicht hatten. Wir wollen nicht mehr sehen, was das Mädchen direkt vor Augen hat: das Männlein spinnt für sie das Gold, weil sie für die Hilfe etwas zurückgeben möchte.
Dabei dachte er: »Wenn’s auch eine Müllerstochter ist, eine reichere Frau finde ich in der ganzen Welt nicht.«
Es stellt sich die Frage: Ist der König nun wirklich so geldgierig?
Warum bietet er dem Mädchen sogar die Heirat, eine eigentlich heilige Verbindung an, wenn es doch nur um Geld geht? Dann könnte er doch einfach weiter pressen und mit Strafe drohen. Auch gehört ihm doch schon alles Gold, warum also die Verbindung mit einer nicht standesgemäßen Frau?
Vielleicht geht es ihm ja um das innere Gold, den wahren Schatz, nämlich die liebevolle Verbindung zur Natur. Und mit der dritten Kammer hat das Mädchen für ihn eine innere Reife erlangt, mit der er sich gern verbinden möchte.
Die Bitte des Männleins scheint grausam zu sein.
Der Mutter das Kind wegnehmen, wo gibt’s denn so was? Sollte man das wörtlich nehmen? Zumal nicht erwähnt wird, was das Männlein mit dem Kinde vorhat. Wieder haben wir ein Symbol, über das es sich lohnt nachzudenken. Die Natur ist ewiges Werden und Vergehen. Und das ist es, was Leben bedeutet – Werden und Vergehen und sich entwickeln. Daher braucht das Männlein etwas Lebendiges, denn mit toten, also materiellen Schätzen allein gibt es keine Entwicklung. Die Verbindung zur Natur muss mit Leben erfüllt und nicht nur als gewinnbringendes Geschäft um jeden Preis verstanden werden.
Vor noch nicht allzu langer Zeit war es den Menschen Gewißheit, daß alles aus dem Schoß der Mutter Erde kommt, alles Leben, alle Nahrung, alle Schätze. Diese eine Quelle des Lebens, die Muttergöttin oder auch Mutter Natur, wurde verehrt und geachtet, indem man opferte. Der Opferritus ist Ausdruck dafür, daß die Menschen anerkannten, daß ihnen nichts Lebendes je gehören kann, denn alles Lebendige, die Tiere, Pflanzen und Kinder kommen von Mutter Natur allein und gehören zu ihr. Unser Leben und unsere Nahrung ist nur für eine gewisse Zeitspanne geliehen und geht dann wieder in die Mutter zurück. Opfern bedeutet, symbolisch der Mutter das zurückzugeben, was ihr bereits gehört. Es war z.B. üblich, die ersten Früchte des Feldes zu opfern und damit für den Rest zu danken, den man fürs Überleben benötigt und behält. Im Erntedankfest finden sich heute noch die Überbleibsel dieser spirituellen Achtung vor der Natur, vor der Kraft des Göttlichen. Es war auch nicht nötig, Leben zu nehmen für diesen Ritus, aber die Bereitschaft war wichtig, innerlich das neugeborene Leben nicht als Eigentum zu betrachten, sondern als Teil der Großzügigkeit von Mutter Natur.
Es gibt in der Bibel das berühmte Beispiel
Es gibt in der Bibel das berühmte Beispiel, dass Gott von Abraham seinen Sohn Isaak fordert [Bibel, 1.Moses 22]. War das ein Zeichen dafür, dass Gott grausam ist? Ist das Rumpelstilzchen grausam? In der Bibel musste das Opfer nicht wortwörtlich vollzogen werden, denn es geht um die geistige Haltung. Es geht darum, das eigene Kind und damit auch das eigene Leben nicht als egoistischen Besitz zu betrachten und damit beides nicht eigensinnigen Wünschen untertan zu machen. Es geht darum, dem Leben den Vorrang zu geben und nicht dem Eigentum. Es heißt, das Mädchen willigt aus Not ein.
Doch was ist die Not der Müllerstochter in der dritten Nacht?
Schließlich droht ihr der König nicht mehr mit dem Tod, sondern bietet ihr verlockenden Gewinn. Sie könnte einfach gehen und sagen: „Nein, ich gebe mein Kind nicht weg und verzichte auf die Heirat mit dem König.“
Das tut sie nicht. Sie ist wohl nun gierig auf die treffliche Stellung als Königin, und Gier bringt einen wahrlich auch in Not. Zwar hat sie eine gewisse Verbindung zur Natur, denn sie kommt ihr immer noch zu Hilfe, aber die geforderte Gegenleistung nimmt sie wohl nicht allzu ernst. Tatsächlich gibt sie ihr Versprechen, ohne viel zu überlegen oder zu verstehen, und vergißt schon bald die ganze Sache. Wie kann man denn vergessen, daß man für die eigene Entwicklung und den damit verbundenen geistigen Gewinn eine Gegenleistung bringen muß?
Den Namen eines Gottes, Geisterwesens oder Menschen zu kennen, war früher wesentlich, um zum anderen Zugang oder sogar Macht über ihn zu bekommen, denn der Name stand für das Wesen desjenigen, der ihn trug. Mit dem Wissen um den Namen hatte man also zwei Möglichkeiten: den Zugang zum Wesen des anderen zum Guten zu nutzen oder ihn zum Üblen zu mißbrauchen.
Zum Guten bedeutet, die Kraft der Natur anerkennen und ehren, und sich mit ihrer Göttlichkeit verbinden. Zum Bösen verleitet uns der Eigensinn: Ich will für mich haben und behalten und gewinnen!
Damit trennen wir uns von der Mutter Natur und zerreißen uns und alles, was wir im Licht des Egoismus betrachten. Wir trennen es in nützlich und feindlich, in angenehm und unangenehm für mich. Damit machen wir das Leben und die Dinge, die uns umgeben, zu Mitteln zum Zweck. Sind sie uns angenehm, wollen wir sie haben. Wenn nicht, lehnen wir sie ab. Wir degradieren Menschen, Tiere und Pflanzen zu Werkzeugen, die man beliebig nutzen oder auch wegschmeißen kann. Im Lichte der Einheit betrachtet, ist die Natur weder böse noch gut. Sie ist, wie sie ist. Und vor allem lebendig.
Doch zurück zur Handlung: Eigentlich war der Handel klar und damit fair gewesen. Das Mädchen hat ein Versprechen gegeben, was die Königin nicht halten will. Und doch bietet das Männlein der Königin eine zweite Chance. Doch welche?
Vielleicht wollte das Männlein, daß die Königin sich ihrer lebendigen Verbindung zur Natur wieder bewußt wird, nachdem sie nach ihrer Heirat und in ihrem neuen Status schon alles wieder vergessen hatte. Doch will die Natur irgendetwas?
Nun, die Natur fordert uns ständig heraus und will uns Chancen zur Entwicklung geben. Wie wir sie nutzen, bleibt uns überlassen.
Zwar sinnt sie des Nachts, also in innerer Dunkelheit, auch Unwissenheit genannt, doch sie bekommt keinen Zugang zum Männlein, zur Natur. Warum hilft ihr die innerliche Schau nicht? Vielleicht, weil sie nach etwas Äußerem sucht.
In der Einsamkeit des Waldes
Es ist der Bote, der inmitten der Einsamkeit des Waldes das Männlein findet, an einem Ort, wo sich Fuchs und Hase, zwei eigentlich geschworene Feinde, Gute Nacht sagen. Ein Ort der Zeitlosigkeit und damit Harmonie, wo äußere Gegensätze und Rollenverhalten nichtig sind.
Ich backe, ich braue
Es ist die Natur, die im Grunde alles transformiert und erschafft.
Der Mensch kann sich nur ins lebendige Wirken der Natur einfügen und seinen Anteil leisten. Doch bei der Königin kommt nicht der tiefere Sinn der Rede, sondern nur die Nachricht an, wie sie ihre versprochene Gegenleistung nicht einzuhalten braucht, denn sie möchte ihr Kind für sich behalten. Ein Kind, das es ohne das Männlein gar nicht gäbe. Sie will und kann nicht anerkennen, dass jedes Leben der Natur angehört. Und so mag sie nicht den nächsten Schritt in ihrer geistigen Entwicklung gehen und die Natur mit Leben, nämlich dem eigenen, erfüllen.
Sie sieht sich nicht verbunden mit dem Männlein, sondern für sie ist es der Feind, der ihr persönlich etwas wegnehmen will. Wen wundert es, dass sich die Natur daraufhin betrogen fühlt und zornig wird? Wer nicht erkennen und sich weiterentwickeln möchte, und dabei so eigennützig denkt, sollte lieber nicht die Namen der Naturgeister kennen, damit er sie nicht missbrauchen kann.
Das erinnert auch an unsere moderne Wissenschaft, die ebenfalls versucht, die Natur mit Bezeichnungen und Kategorien zu begreifen, um sie zu beherrschen. Nun, das geht nicht immer gut.
Die Reaktion des Männleins ist dementsprechend: Die Natur kann zornige Kräfte entfalten, und menschlicher Egoismus, einer der Teufel dieser Welt, reißt entzwei, was eine harmonische und sich ergänzende Einheit sein könnte.
Wer hat gewonnen? Gibt es einen Sieger?
Ein Märchen endet gewöhnlich mit dem Sieg des Guten. Oberflächlich könnte man sagen, die Königin hat gewonnen. Aus Sicht des Männleins, ist die Natur für eigensinnige Zwecke benutzt worden. Und jeder, der über dieses Märchen nachdenkt, zieht sicherlich andere Schlüsse. Doch wenn man überhaupt versucht, über den tieferen Sinn einer Geschichte nachzudenken, dann hat das Märchen ganz sicher ein gutes Ende.
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Zum Schluss ein Gedicht
Danach
Es wird nach einem happy end
im Film jewöhnlich abjeblendt.
Man sieht bloß noch in ihre Lippen
den Helden seinen Schnurrbart stippen —
da hat sie nu den Schentelmen.
Na, un denn –?Denn jehn die Beeden brav ins Bett.
Na ja … diss is ja auch janz nett.
A manchmal möcht man doch jern wissn:
Wat tun se, wenn se sich nich kissn?
Die könn ja doch nich immer penn …!
Na, un denn –?Denn säuselt im Kamin der Wind.
Denn kricht det junge Paar ‘n Kind.
Denn kocht sie Milch. Die Milch looft üba.
Denn macht er Krach. Denn weent sie drüba.
Denn wolln sich Beede jänzlich trenn …
Na, un denn –?Denn is det Kind nich uffn Damm.
Denn bleihm die Beeden doch zesamm.
Denn quäln se sich noch manche Jahre.
Er will noch wat mit blonde Haare:
vorn dof und hinten minorenn …
Na, un denn –?Denn sind se alt.
Der Sohn haut ab.
Der Olle macht nu ooch bald schlapp.
Vajessen Kuß und Schnurrbartzeit —
Ach, Menschenskind, wie liecht det weit!
Wie der noch scharf uff Muttern war,
det is schon beinah nich mehr wahr!Der olle Mann denkt so zurück:
Wat hat er nu von seinen Jlück?
Die Ehe war zum jrößten Teile
vabrühte Milch un Langeweile.
Und darum wird beim happy end
im Film jewöhnlich abjeblendt.
(Kurt Tucholsky, Zwischen gestern und morgen)